Versumpft in den Everglades (2024)

Als Sven vor vielen Jahren nach Florida kam, hatte er einen Traum. Vom Mythos der Sumpfbewohner, der unbesiegten Seminolen. Amerikanische Ureinwohner, die erhobenen Hauptes durchs Land zogen, immer noch wie damals.

Die Seminolen waren im 18. Jahrhundert aus Georgia nach Florida geflohen – vertrieben von der Armee. Sie lernten im Sumpfland der Everglades zu leben, zu jagen, Felder zu bebauen und aus den hiesigen Pflanzen Medizin zu machen.

Obwohl die Zeit wie das Wasser in der Sumpflandschaft verronnen war, fand der Belgier Sven einen Stamm, der jenseits der Zivilisation auf traditionelle Weise lebt und durch die Everglades zieht. „Warum ich sie eine Weile begleiten durfte, weiß ich nicht.“ Sven denkt nach. „Sie haben kaum Kontakt zu Weißen.“

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Seine Erzählungen klingen nach Mythos. Unabhängige Seminolen, die durchs Wasser wandern, sich aus dem Fluss ernähren und am Lagerfeuer Zeremonien feiern. Sven erinnert sich, wie er einem Regenmacher bei der Arbeit zusehen durfte. „Der sternenklare Nachthimmel zog sich zu, kurz darauf fielen die ersten Tropfen“, behauptet der Kanu-Vermieter, als ich ihn am Orange River treffe.

Auf dem Highway

Svens Erlebnisse sind eine Ausnahme. Die meisten Seminolen und Miccosukee Indianer leben heute in Betonhäusern mit Strom und fließend Wasser. Was werde ich also in den Everglades vorfinden? Von Fort Lauderdale bin ich etwa eine Stunde bis zu den Sümpfen gefahren.

Die feuchte Luft staut sich unter der tief hängenden Wolkendecke, Meile für Meile das selbe Bild auf dem Weg zwischen Naples und Fort Lauderdale, dem Highway I 75. Die sogenannte Alligator Alley durchschneidet die Everglades. Rechts und links der Autobahn nichts als hohes Gras, Wasser, Bauminseln, Mangrovensümpfe.

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Auf der Mitte der Strecke dann die ersten Hinweisschilder: Miccosukee Indian Reservation, Big Cypress Seminole Indian Reservation. Ab der Stelle mit der einzigen Tankstelle an der Alligator Alley schlängelt sich die Snake Road durch die Reservate. Die Wolkendecke reißt auf, ein surreales Licht scheint auf friedlich grasende Kühe. Ich bin fast da – bereit für die Safari.

Die enormen Reifen des sumpftauglichen Jeeps rollen an. Wie durch Geisterhand öffnet sich das große Tor des Safari-Parks. Die Jeep-Tour startet mit der Durchquerung eines Tümpels, die Reifen versinken im Wasser. Am Ufer stapeln sich Alligatoren, bewegungslos wie Plastiken.

„Ganz schön hässlich, diese Freunde,“ meint Joe Don Billie. „Aber sie schmecken gut.“ Das kann ich nicht unterschreiben. Denn als ich nach der Tour frittiertes Krokodilfleisch probiere, kann ich keinerlei Eigengeschmack feststellen: Es schmeckt einfach nur frittiert.

Die Geheimnisse der Everglades

Der Seminole trägt Jeans und T-Shirt, ein Baseball-Cap bedeckt das kurze schwarze Haar. Joe hat den Park und das Camp mit aufgebaut, er kennt die Sumpfwälder, die Hammocks, wie seine Westentasche. Ein echtes Kind der Everglades.

„Diese Wälder halfen mir zu überleben.“ Joe spricht von damals, von seiner Kindheit und der traditionellen Lebensweise des Stammes. An der Höhe und Art des Baumes liest er die Beschaffenheit des Untergrunds ab. Er kennt die Geheimnisse der Everglades, die vielfältigen Lebensformen unter dem Dickicht, im Wasser und auf den Bäumen.

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„Jede Menge Tiere leben da drin. Sie tun uns nichts, wir tun ihnen nichts. Aber wir essen sie, wenn wir Hunger haben.“ Joe macht gerne Witze. Doch was die Seminolen zum Leben brauchten, holten sie sich aus den Sümpfen. Als Kind ging er in den Hammocks wandern und jagen. Im Alter von acht Jahren verließ er die Reservation – um zurückzukehren.

Das Leben dort änderte sich: Seit den 70er Jahren gibt es Elektrizität im Staat der Seminolen. Heute lebt man nicht mehr in den traditionellen Chickees. Die Holzhütten mit den Palmen-Dächern beherbergen nur noch die Gäste des Safari-Parks, die bis tief in die Nacht dem Geschichtenerzähler am Lagerfeuer und den Grillen lauschen.

Green Corn Cay

Dann ist Joe nicht mehr im Camp. Er fliegt gerne, hat keine Höhenangst. Der Seminole ist stolzer Besitzer einer Hubschrauber-Lizenz. Trotz seines umtriebigen Lebens versucht er das Kulturerbe als Native American zu pflegen: „Ich nehme am Jahresfest teil, dem Green Corn Day.“

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Hier treffen Seminolen ihre Stammesmitglieder, tanzen und singen alte Lieder. Medizinmänner zelebrieren ihre Jahrhunderte alten Riten. Doch auch der christliche Glaube ist präsent – im Wappen der Seminolen heißt es „in god we trust“.

Denn die Missionare waren bis in die Sümpfe vorgedrungen. Der „Green Corn Day“ hat überlebt: Vier Tage wird gemeinsam gefeiert, davon dient ein Fastentag der Körperreinigung. „Es ist der Tag der Vergangenheit und der Zukunft, wir trinken Wasser und meditieren.“ Keine Gäste, keine Fotos.

Schulen dank Bingo

In den Reservaten der Seminolen und Miccosukee gelten ihre eigenen Gesetze, sie sind unabhängig von den Vereinigten Staaten. Letztere vergaben als eine Art Wiedergutmachung die Lizenz für Casino-Betriebe an die Seminolen. Laut Stammes-Chef James Billie ist „Bingo einer der größten Geldbringer.“

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Von dem Geld konnten sie Schulen gebauen, Institutionen wie das Ah-Tah-Thi-Ki-Museum entstanden. Ein „Ort zum Lernen, ein Ort zum Erinnern“ will das Kulturhaus sein. Nachgestellte Szenen des Dorflebens, von Zeremonien und der Jagd sind naturgetreu arrangiert.

Joe’s Bruder James hatte vor vielen Jahren die Idee, einen Safari-Park anzulegen. Bei Buggy- und geräuschvollen Airboat-Touren durch den Grassumpf lauert die Tierwelt der Everglades am Wegesrand. Selbst die Sumpfhühner lassen sich von den lauten Airboats nicht verjagen. Importierte Tiere, wie die schwarzen Rasierklingenrücken-Schweine, deren Vorfahren einst von den Spaniern nach Florida gebracht wurden, kreuzen ebenfalls die Wege.

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Die Parkbesitzer haben außerdem Gnus, Wasserbüffel und Rehe ins Gehege gesetzt. Zwei Florida-Panther laufen auf abgezäuntem Terrain hin und her. „In freier Wildbahn lassen sie sich selten blicken,“ weiß Joe aus Erfahrung.

Die Traditionen

Nach der Tour stellt mir Joe Billie seinem Cousin Victor vor, der am Feuer des zentralen Küchen-Chickees sitzt. Victor trägt das traditionelle Folklorehemd der Seminolen zur Jeans, seine halblangen Haare sind zu einem Zopf zusammengebunden, seine Augen von einer großen Sonnenbrille verdeckt.

In der Mitte des Chickees knistert das Feuer zwischen vier Holzscheiten, die gemäß der Himmelsrichtungen gegeneinander liegen. Auf dem Rost darüber schmort „Garfish“, ein für die Everglades typischer Fisch mit langer Schnauze.

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„Aus seinen Schuppen wurden früher Armbänder gemacht,“ erzählt Victor. Er arbeitet im Safari-Park, mimt ab und an den Geschichtenerzähler am Lagerfeuer. Die Seminolen gaben und geben ihre Weisheiten wie ihre Sprache seit Generationen mündlich weiter.

„Doch die Kinder lernen unsere Sprache in den Schulen nicht oder nur wenig.“ Victor klagt über das Desinteresse der heranwachsenden Generation: „Ich sterbe jeden Tag ein bisschen.“ Der Seminole lebt bei seiner Familie, zu Hause wird kein Wort Englisch gesprochen. Krankheiten behandelt die Familie nach Möglichkeit mit der traditionellen Pflanzenmedizin aus den Everglades.

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Victor blickt in die Zukunft, melancholisch: „Die großen Städte werden immer größer und zerstören die Everglades.“ Miami auf der Atlantik-Seite sowie die wachsenden Städte Naples und Fort Myers an der Golfküste entziehen durch ihren enormen Wasserbedarf den Everglades mehr und mehr die Lebensgrundlage: Die Grasflusslandschaft ist vom Austrocknen bedroht.

Die Dämmerung bricht ein, die Spitzen der Himmelrichtungs-Hölzer in der Mitte des Küchen-Chickees glühen. „Ich möchte das Feuer kontrollieren.“ Joe Don Billie spricht von den Gas-Lampen, die er den elektrischen vorzieht. Ich sage, dass ich eine Taschenlampe vorziehe, statt im Dunkeln nach Streichhölzern zu suchen.

Nachts im Sumpf

Ich werde später im Chickee übernachten, im einfachen Holzbett unter einem Palmetto-Dach, rundherum ein Moskito-Netze und auf dem Nachtisch eine Petroleum-Lampe. Streichhölzer gibt es gratis dazu. „Angst vor Spinnen und Taranteln?“, fragt Joe, der Scherzkeks. Ich werde versuchen, später nicht mehr daran zu denken und alle Schubladen, Ecken etc. zu kontrollieren.

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Wir brechen auf zur abendlichen Buggy-Tour. Die Nacht ist klar und leicht abgekühlt, das Motorengeräusch des Jeeps durchbricht die Stille des Sumpfes.

Wir fahren ein Stück hinaus in das orientierungslose Dunkel, dann stoppt Joe den Wagen, schaltet den Motor aus. Im Unterholz ein Knistern. „Nirgendwo kannst du so einen Ort finden. Besonders nachts. Dann wird der Wald mystisch.“ Als Junge ging er gerne nachts jagen.

Joe gehört dem Panther-Clan an. In der Dunkelheit sieht er angeblich besser als tagsüber. „Nachts orientierst du dich am Geruch der Tiere, die du jagen willst. Am Moos, das sich nach der Sonne richtet. An den Pflanzen und den Sternen, um den Weg zu finden.“

Am Firmament glitzert ein Meer von Sternen. Die Nacht ist so hell, dass wir ohne Scheinwerfer den Weg zurück finden.

Text und Fotos: Elke Weiler

Aus der Reihe „Archivgeschichten“: Als ich noch analog fotografierte und als Reisejournalistin für Tageszeitungen und Magazine unterwegs war, hatte ich die Gelegenheit, die Seminolen in den Everglades kennenzulernen.

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